Demokratie

Politische Erwachsenenbildung in unsicheren Zeiten: Garant demokratischer Gesellschaftsordnungen?

Vortrag von Frau Prof. Dr. Zeuner, gehalten am 14. Juni 2023 im Rahmen der Veranstaltung des DGB-Bildungswerk NRW „Offensiv für politische Bildung“ in Essen.

Der Vortrag als Download.

Die nationalen und internationalen politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklungen geben Anlass zur Sorge um den Stand und den Bestand von Demokratien und damit verbunden um den jahrzehntelang tragfähigen Konsens, mithilfe demokratischer Verhältnisse Frieden und einen – wenn auch häufig bescheidenen – Wohlstand für alle zu schaffen für ein menschenwürdiges Zusammenleben.

Die Folgen von Kriegen mitten in Europa und im Nahen Osten sowie des Klimawandels, der in einigen Erdteilen bereits krisenhafte Ausmaße annimmt, bedrohen die Demokratie als politische Institution. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz verändern Kommunikations- und Produktionsformen, wobei die Konsequenzen für die Ökonomie und die Arbeitswelt noch nicht absehbar sind. Machthaber wie Wladimir Putin und Recep Erdogan oder der Aufstieg von Populisten wie Donald Trump, der versuchte, seine verlorene Wahl mittels eines Staatsstreichs zurückzugewinnen, diskreditieren bzw. bedrohen mit ihrer Politik die Demokratien jeweils auf ihre Weise. Auch in Europa erleben wir, wie sich der Populismus Bahn bricht. Es kommen Politikerinnen und Politiker an die Macht, die die Demokratie, wie wir sie seit Jahrzehnten in den meisten europäischen Staaten kennen, in Frage stellen. Nicht zuletzt auch in Deutschland, wo die AfD bei Landtagswahlen im September 2023 zweitstärkste Partei geworden ist.

Kriege und Bürgerkriege, aber auch die ökonomischen und sozialen Konsequenzen des Klimawandels führen zu globalen Migrationsbewegungen in einem bisher unbekannten Ausmaß. Europa wird das Ziel von Menschen, die in ihrer eigenen Heimat verfolgt wurden, aus ihr vertrieben wurden oder sich aus freien Stücken entschieden, sie zu verlassen. Fast immer geht es um das schiere Überleben.

In Deutschland ist eine stetige Rücknahme sozialstaatlicher Errungenschaften und Rechte zu beobachten sowie eine Ausweitung des Niedriglohnsektors. Die Folge ist u.a. ein zunehmendes Maß an sozialer Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit, die zu gesellschaftlichen Polarisierungen führen. Die Ökonomisierung gesellschaftlicher Bereiche wie des Gesundheitswesens, des Bildungswesens, der Wissenschaft und Forschung, aber auch anderer zivilgesellschaftlicher Bereiche verstärken die Ungleichheit. Die Unterfinanzierung des Bildungswesens und die daraus resultierenden langfristigen negativen volkswirtschaftlichen Folgen sprechen Bände.

Diese Ereignisse erzeugen individuell wie kollektiv vielfältige Ängste – die Frage ob sie berechtigt sind oder nicht, stelle ich hier nicht. Aber es ist zu beobachten, dass die politische Lage Unsicherheit vermittelt. Diffuse Gefühle von Bedrohung führen bei vielen Menschen zur Orientierungslosigkeit, oder, wie Oskar Negt es nennt, zu einem Orientierungsnotstand (Negt 2016, S. 10).

Dieser Zustand birgt Gefahren – für die Subjekte ebenso wie für die Gesellschaft. Menschen benötigen Orientierung zur Sicherung ihrer Existenz: Dabei geht es nicht nur um die ökonomische Existenzsicherung, sondern auch um eine stabile psychosoziale Verortung: Sie umfasst Fragen der Herkunft und der Identitätsentwicklung ebenso, wie sie die Fähigkeit der Menschen beschreibt, veränderte und neue (Lebens-)Erfahrungen in bisherige integrieren zu können, indem sie die eigenen Denkweisen, Sichtweisen und Orientierungen ergänzen oder bereichern. Bindungslosigkeit, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit können in einen Vertrauensverlust in die Gesellschaft und ihre Ordnungen führen.

Auf Dauer können aus dieser Verunsicherung bei den Menschen Weltbilder entstehen, die offen sind für populistisches und extremistisches Gedankengut und Verschwörungsideologien. Denn die Protagonist*innen solcher Gedankenwelten schaffen „neue, orientierende Bindungen“ bzw. suggerieren sie. Darin birgt sich die reale Gefahr der Manipulation. Denn, so Negt: „Die Angebote von Kameradschaften, nationalen Ortsbestimmungen und Heimaten, die menschliche Nähre versprechen, sind keineswegs mehr bloße Phantasien“ (Negt 2016a, 13).

Orientierungslosigkeit erzeugt Unsicherheit. Menschen versuchen, sie durch den Aufbau neuer Bindungen zu überwinden. Ein Weg ist der von Negt beschriebene in neue Kameradschaften. Je nach Milieu werden darin Haltungen wie Politikverdrossenheit bis hin zu Politikverweigerung bestärkt, Demokratieskepsis oder explizite Demokratiefeindlichkeit finden Raum und Anerkennung. Verschwörungsnarrative erlebten in der Coronapandemie eine Hochzeit. Zunehmend sind Ethnozentrismus, Rassismus, Homophobie, Antifeminismus, Antisemitismus, Chauvinismus usw. als Ausdruck rechtsextremer Gesinnung auszumachen.

Dies sind Befunde der 2022 veröffentlichte Leipziger Autoritarismus-Studie, die die Reaktionen auf die gesellschaftlichen Transformationsprozesse als „autoritäre Dynamiken“ charakterisiert (Decker u.a. 2022). Diese äußern sich in antidemokratischen und populistischen bis hin zu rechtspopulistischen und rechtsextremen Einstellungen und Haltungen. Ein Ergebnis der Studie ist, dass diese sich nicht mehr auf die sogenannten Ränder der Gesellschaft beschränken. Auch die gesellschaftliche Mitte fühlt sich bedroht durch das Schwinden der gewohnten gesellschaftlichen Stabilität, die bisher ihre kollektive Identität sicherte. Die Mitte, so ein Ergebnis der Studie, vertritt ebenfalls zunehmend antidemokratische Haltungen.

Aufschlussreich sind die Zahlen zur Sonntagsfrage von Anfang Juni 2023. 19 Prozent der repräsentativ ausgewählten Befragten gaben an, sie würden sich für die AfD entscheiden, falls am nächsten Sonntag gewählt würde. Von ihnen scheinen ca. 70 Prozent eher Sympatisant*innen zu sein, die auf Nachfrage angaben, diese Partei nur aus Protest wählen zu wollen. Aus Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien und ihrer Politik, deren Vertreter*innen sie als Elite ablehnen. Oder aus Angst vor zukünftigen politischen Entscheidungen, von denen sie fürchten, dass sie ihre Belange, Bedürfnisse und Interessen von der Politik nicht berücksichtigten.

Kann man sich also beruhigt zurücklehnen und daraus schließen, dass sich letztlich nicht viel geändert habe? Proteste gegen die Regierungsparteien gab es immer wieder. Rechnet man die Protestwählerinnen und -wähler aus den 19 Prozent heraus, bleibt ja scheinbar alles beim Alten. Durchschnittlich zehn Prozent der Bevölkerung würden dann tatsächlich eine rechtsextreme Partei wählen. Dieses Wahlverhalten erleben wir seit langem, wobei im Osten der Republik die Zahl der rechtsextrem wählenden Personen höher ist als im Westen und auch schneller steigt. Die Bürgerin, der Bürger, die sich selbst beruhigen wollen, verweisen auf unsere stabile Demokratie, die einen gewissen Anteil rechtsextrem wählender Gruppen seit Jahren verkraftet.

Aber trifft eine solche Analyse tatsächlich zu? Kann es einen wirklich beruhigen, dass die Mehrzahl der Befragten die Wahl der AfD angeblich nur erwägt, um ihren Protest, ihre Unzufriedenheit mit den aktuell politisch handelnden Personen auszudrücken? Gleichzeitig aber vorgibt, den Zielen und Ansichten der Partei im Grunde nicht zuzustimmen? Die den Regierungsparteien signalisieren wollen, sie mögen politische Entscheidungen sozial gerechter gestalten, mögliche Konsequenzen ihrer Politik präventiv durchdenken, transparenter darstellen und verständlicher vermitteln? Oder gewöhnen wir uns bereits an eine neue Normalität, die es einer rechtsextremen Partei wie der AfD erlaubt, immer mehr öffentliche Ämter zu übernehmen um die Gesellschaft auf diese Weise zu infiltrieren und zu spalten?

Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Bayern und Hessen im September 2023 sprechen für sich und sollten allen Demokrat*innen zu denken geben. Dort wählten 14,7 Prozent bzw. 18,4 Prozent der Wahlberechtigten AfD. Damit verzeichnete die AfD jeweils einen Zuwachs zwischen 4,5 und 5,5 Prozent, sie wurde in Hessen die zweitstärkste Partei nach der CDU. Gewählt haben sie nicht nur bisherige Nichtwähler*innen, sondern auch eine beträchtliche Anzahl von Wechselwähler*innen.

Ein Problem scheint die Erosion bisheriger Grenzen zu sein, die sich in Bezug auf die Akzeptanz politischer Meinungen jenseits demokratisch legitimierter und begründeter Auffassungen zeigt. Es ist zu fragen, auf welche Weise auch in der Mitte der Gesellschaft populistische oder rechtsextreme Meinungen salonfähig werden konnten, warum heute Ansichten unter dem Hinweis auf die Meinungsfreiheit toleriert werden, von denen es vor zehn Jahren vielleicht noch undenkbar gewesen wäre, sie öffentlich zu äußern, ohne dass sie auf die eine oder andere Weise sanktioniert werden.

Die skizzierten Entwicklungen und Szenarien mögen genügen, um einige Denkanstöße zu geben. Vorbereitend auf das Thema des Vortrags, die politische Bildung bzw. die politische Erwachsenenbildung.

Denn Bildung kann ein Mittel gegen Unsicherheit und Orientierungslosigkeit sein, welche in einer sich ständig verändernden komplexen Welt zur Bindungslosigkeit führen können (Negt 2016a, 11). Die Ursache dieser Entwicklungen liegt in einer fortschreitenden „kulturellen Erosionskrise“, die „sich dadurch auszeichnet, dass alte Werte, Haltungen, Normen nicht mehr unbesehen gelten, neue noch nicht da sind, aber intensiv gesucht werden“ (ebd.).

Zu fragen ist also, auf welche Weise die politische Bildung Orientierung geben kann, wie sie demokratische Einstellungen und Haltungen festigen und Handlungsperspektiven entwickeln kann. Ausgangspunkt sind damit Fragen nach den Zielsetzungen und Aufgaben der politischen Bildung und ihrer gesellschaftlichen Rolle angesichts unsicherer und verunsichernder Zeiten, angesichts gesellschaftlich „autoritärer Dynamiken“.

Decker u.a. weisen in ihrer Studie darauf hin, dass die autoritären Dynamiken nicht nur von den Einzelnen ausgehen, sondern bereits in der Gesellschaft verankert sind. Die Individuen erkennen sie als gesellschaftliche Widersprüche, denen sie sich ausgeliefert fühlen (Decker u.a. 2022, S. 16). Es gilt also, über solche autoritären Dynamiken aufzuklären, Gesellschaftskritik zu üben. Zugleich sehen Decker u.a. die Gefahr, dass, „durch […] den Extremismusbegriff spezifische, unerwünschte Gesinnungen externalisiert [werden]“, was wiederum Grundsätze einer demokratischen Gesellschaft verwische. Denn, so heben sie hervor:

„Unterschiedliche Gesinnungen sind jedoch ein inhärentes Phänomen der Gesellschaft selbst, und damit ist es die Aufgabe der Demokratie, sich mit diesen auseinanderzusetzen – in den demokratischen Arenen, die dafür eingerichtet werden, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft.“ (Decker u.a. 2022, S. 16)
Der politischen Erwachsenenbildung als Bestandteil und Aufgabe der Zivilgesellschaft kommt hierbei eine tragende Rolle zu.

Um die gesellschaftliche Rolle der politischen Erwachsenenbildung genauer herauszuarbeiten, werden erstens aus einer kritisch-theoretischen Perspektive Ziel und Aufgaben der politischen Bildung in einer demokratischen Gesellschaft definiert. Zweitens wird diskutiert, welche Bedeutung politische Bildung im Rahmen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit haben kann. Drittens werde einige Ergebnisse eines Projekts vorgestellt, in dem Mehrfachteilnehmende, die im Rahmen von Bildungsfreistellungs- bzw. Bildungsurlaubsveranstaltungen an politischer Bildung teilgenommen haben, zu ihren Erfahrungen und Lernprozessen befragt wurden. Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zu möglichen Strategien der politischen Erwachsenenbildung bezogen auf ihre Praxis.

Politische Bildung: Begründungen, Ziele und Aufgaben

Wie so häufig, wird in sich verändernden und unsicheren gesellschaftlichen Zeiten der Ruf nach politischer Bildung lauter. Sie soll richten, was versäumt wurde bzw. Einfluss nehmen, wo zuvor weder die Schule als Sozialisationsinstanz noch die Politik oder die Gesellschaft als Ganzes erfolgreich waren. Dass diese Feuerwehrfunktion die politische Bildung überfordert und auch ihrem Anspruch nicht gerecht wird, wurde bereits vielfach diskutiert und kritisiert. Politische Bildung ist und bleibt eine langfristige gesellschaftliche Aufgabe, die jede Generation für ihre Belange und in ihrem Interesse gestalten muss, um den Bestand der Demokratie zu sichern und sie weiterzuentwickeln. Demokratie nicht nur als Staatsform verstanden, sondern auch als Lebensform. Demokratie als Lebensform ist auf die aktive Beteiligung aller Mitglieder angewiesen, was bedeutet, dass sich jede Einzelne, jeder Einzelne für ihren Erhalt und ihre Weiterentwicklung einsetzen sollte. Der der Soziologe und Sozialphilosoph Oskar Negt formulierte es einmal so:

Lebendig kann Demokratie nur bleiben, wenn sie durch weitgehende Mitbestimmungsrechte in allen lebenswichtigen Fragen geübt, zur alltäglichen Lebensform und selbstverständlichen Praxis wird.“ (Negt 2010, S. 507)

An anderer Stelle weist er darauf hin, dass uns ein demokratisches Bewusstsein nicht in die Wiege gelegt wurde, vielmehr ist „Demokratie […] die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – immer wieder, tagtäglich und bis ins hohe Alter hinein“ (Negt 2012, S. 13, Hervorhebungen im Original).

Jede Generation ist also von Neuem gefordert, sich das für das politische Handeln notwendige Wissen anzueignen. Individuelle und kollektive Lernprozesse, die sich nicht nur en passant ereignen, müssen gezielt gefördert werden. Der politischen Erwachsenenbildung kommt dabei die Aufgabe zu, zwischen Politik und Individuen zu vermitteln. Einerseits soll sie im Sinne von „political literacy“, verstanden als politische Grundbildung, Politik und politische Zusammenhänge erklären. Andererseits unterstützt sie die Menschen dabei, politische Urteilsfähigkeit und Mündigkeit zu entwickeln, um politisch handeln zu können. Denn eine Demokratie „die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen“ (Adorno 1966/2008, S. 107).

Aufgabe der politischen Bildung ist es damit zum einen, Menschen „das Politische“, zu vermitteln, ihr Bewusstsein zu schärfen für die Einbettung des alltäglichen Lebens in politische Zusammenhänge und diese als mögliche Handlungsfelder politischer Partizipation zu entdecken. Zum anderen sind es Ziel und Anliegen der politischen Bildung, Möglichkeiten für Bildungsprozesse zu eröffnen. Bildung definiere ich im Anschluss an Peter Faulstich folgendermaßen:

„Was denn Bildung umfasst, ist nicht abschließend positiv zu definieren, sondern immer negativ intendiert, gegen Dummheit gerichtet. Insofern bleibt Kern von Bildung die Aufklärung und der Widerstand gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Verdummung.“ (Faulstich 2016, S. 60)

Zu fragen ist also, welche Chancen und Möglichkeiten die politische Bildung heute hat angesichts gesellschaftlicher Umbruchsituation. Diese können, global gesehen, nur bedingt beeinflusst werden, ihre Auswirkungen sind aber bis in die kleinsten Verästelungen der Gesellschaft spürbar und es bedarf der Auseinandersetzung und der Reflexion aller, Möglichkeiten aufzuspüren, politische Entwicklungen zu beeinflussen und sich kritisch an öffentlichen Diskursen zu beteiligen. Alternativen und Optionen zu artikulieren und politisches Handeln in den unterschiedlichsten Bereichen zu fördern. Und zwar nicht nur auf der Ebene der etablierten Politik.

Jede Definition von politischer Bildung bzw. politischer Erwachsenenbildung beruht auf theoretischen und politischen Grundannahmen, die expliziert werden müssen, denn sie begründen ihre jeweiligen Ziele und Aufgaben, die zugrundeliegenden Werte und Normen. Im Folgenden wird politische Bildung vor dem Hintergrund der Kritischen Theorie diskutiert.

Charakteristisch für Ansätze und Konzepte der politischen Bildung ist deren Dichotomie zwischen Anpassung und Widerstand. Das heißt, politische Bildung hat auf der einen Seite die Aufgabe, die Anpassung der Bevölkerung an und ihre Integration in das jeweils bestehende politische System zu gewährleisten, was auch Formen der Vergesellschaftung und Kontrolle beinhaltet. Auf der anderen Seite soll politische Bildung im Sinne der Aufklärung die Menschen bei der Entfaltung von Urteils- und Kritikfähigkeit unterstützen, indem sie die Widersprüche politischer und gesellschaftlicher Realität erkennen, darüber nachdenken und lernen, sie einzuschätzen. Die Entwicklung und Reflexion eigener Standpunkte sollen zu Mündigkeit führen und damit zur Emanzipation.

Fundament aller Ansätze der politischen Bildung war und ist die Demokratie als normative Idee und als handlungsrelevanter gesellschaftlicher Bezugsrahmen. Durch die partizipative politische Gestaltung der Demokratie soll im Idealfall eine Verbesserung der Lebensbedingungen für alle erreicht werden (Zeuner 2010; Hufer 2016, S. 22).

Politische Erwachsenbildung, die sich als kritisch versteht, orientiert sich an Grundgedanken der Aufklärung. So wird regelmäßig Bezug genommen auf einen der Kernsätze der Aufklärung, den Immanuel Kant (1724-1804) 1784 veröffentlichte: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Unmündigkeit im Sinne Kants zu überwinden, erfordert die Entwicklung von Urteils- und Kritikfähigkeit, die nicht nur zur Mündigkeit und Emanzipation der Subjekte, sondern einer Gesellschaft als Ganzes führen soll. Zugleich wird in aktuelleren Diskursen über die Aufklärung unter Berücksichtigung des Wissens um die Dialektik der Aufklärung berücksichtigt, dass die Entwicklung von individueller Reflexivität, geistiger Durchdringung von Welt, Orientierung und Bewusstseinsbildung jeweils in historischen Kontexten verankert ist und eine kritische Diskussion über die Widersprüchlichkeit von Aufklärung zulassen muss (Schnädelbach 2004).

Zu Leitbegriffen der Kritischen Theorie avancierten Vernunft, Kritik, Praxis, Kritik- und Urteilsfähigkeit, Emanzipation und Mündigkeit, womit Begriffe der Aufklärung aufgenommen und unter Berücksichtigung der Marx’schen Ideologiekritik und der Psychoanalyse weiterentwickelt wurden (Weiß 2010, S. 79). Die Kritische Theorie versteht moderne Gesellschaft als einen dynamischen Strukturzusammenhang, deren Verhältnisse geprägt sind von Widersprüchen. Kritische Theorie und damit kritische politische Bildung zielt, im Sinne von Marx als „kritische Tätigkeit“ darauf, „die aktuellen sozialen Konflikte und Auseinandersetzungen in der Gesellschaft“ zu reflektieren (Winter 2007, S. 31). Aufgrund der historischen Erfahrungen wird aber berücksichtigt, dass diese Erwartungen nicht von allen Menschen ohne weiteres erfüllt werden, da nicht jede und jeder bereit ist, sich selbst aufzuklären, zu emanzipieren und als mündige Bürger*innen zu handeln.

An diesem Punkt setzen neuere Konzepte der kritischen politischen Bildung an, die seit ca. 15 Jahren als eigenständige Richtung der politischen Bildung diskutiert werden (Zeuner & Schudoma 2023). Kritische politische Bildung geht im Verständnis der Kritischen Theorie von verschiedenen Prämissen aus:

Erstens analysiert, reflektiert und klärt sie im Sinne des kritischen Erkenntnisinteresses von Wissenschaft (und Praxis) ihr eigenes Tun, indem sie es selbst zum Gegenstand der Analyse macht.

„[Sie] erweitert die kritische Überprüfung und Reflexion auf zugrunde liegende Prämissen, Ideologien, Gesellschaftstheorien, materielle Grundlagen und schließlich die je eigene, historisch-konkret zu konstatierende Verstrickung in Herrschaft“ (Bauer 2013, S. 26).

Zweitens wird in der kritischen politischen Bildung der Subjektbegriff hinterfragt und in seiner Differenziertheit reflektiert. Dabei geht es nicht nur um eine theoretische Dekonstruktion verschiedener Subjektbezüge und Erwartungen an das Subjekt (bezogen auf demokratische Rechte, Autonomieansprüche) oder um gesellschaftlich definierte Erwartungen wie Selbstverantwortung, Selbststeuerung und Selbstkontrolle (ebd., S. 28), sondern auch um die Frage, welche Rolle das Subjekt in der Praxis der politischen Bildung spielen soll.

„Kritische politische Bildung reflektiert das widersprüchliche Verständnis des Subjekts, hält einerseits am Ausgangspunkt und Ziel eines möglichst autonomen, freiheitlichen und emanzipierten Subjekts fest – und weiß gleichzeitig um dessen gesellschaftliche Gebundenheit und Bedingtheit.“ (ebd., 29)

Damit stellt sich die Frage, inwiefern die Subjekte wirklich autonom und frei handeln können, oder ob und inwieweit sie als vergesellschaftete Subjekte in ihrem Handeln beschränkt werden.

In der politischen Bildung geht es dann nicht nur um das Verstehen politischer Strukturen, gesellschaftlicher, sozialer und ökonomischer Zusammenhänge usw., also um Wissensaneignung. Vielmehr setzen sich Lernende im Rahmen von Bildungsprozessen im Sinne einer Subjekterweiterung auch mit ihren eigenen Rollenmustern, Stereotypen, Klischees und Vorurteilen auseinander, wenn sie mit anderen Perspektiven konfrontiert werden. Dieser Selbstaufklärungsprozess kann zu veränderten Einstellungen und Haltungen bei den Subjekten führen und Denkmuster verändern. Um entsprechende Lernprozesse in Gang zu setzen, ist politische Bildung zugleich gegenstandsbezogen. Ihre Lerngegenstände zeichnet politische Relevanz aus und orientieren sich an den drei Dimensionen von Politik: polity (die institutionelle Form); politics (der prozessuale Verlauf) und policy (der normative Inhalt).

Das heißt, politische Bildung schließt die soziologische Analyse der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen unter Einschluss der historischen Dimension mit ein. Politische Bildung zielt zudem darauf, gesellschaftliche Interessen im Verhältnis zu subjektiven, objektiven und fremden Interessen bewusst zu machen und damit den Zusammenhang zwischen subjektiven Entwicklungsmöglichkeiten und gesellschaftlichen Verhältnissen zu klären. Politische Bildung vermittelt Verständnis für konkrete, aktuelle gesellschaftliche Konflikte und Kontroversen und zeigt durch deren Analyse Mittel und Möglichkeiten des aktiven Eingreifens in politische Auseinandersetzungen auf. Dabei geht es auch um die Überwindung von Vorurteilen und die Entwicklung von Mündigkeit und Urteilsfähigkeit im Sinne von Bildungsprozessen.

Politische Bildung zielt neben der Aneignung von Wissen auch auf die Befähigung zum politischen Handeln in einer Demokratie. Reibungspunkte ergeben sich bei der Frage, worauf sich die Handlungsfähigkeit beziehen soll: Auf die Teilnahme an Wahlen und die Wahrnehmung weiterer demokratischer Rechte, was einer weitgehenden Bestätigung des politischen und gesellschaftlichen Status quo gleichkommt? Oder ist es Ziel der politischen Bildung, individuelle und gesellschaftliche Emanzipationsprozesse zu unterstützen? Was bedeutet das konkret? Demokratie muss gestaltet werden. Sie ist ihrem Wesen nach nicht statisch, sondern dynamisch. Ihr Zustand muss ständig kritisch überprüft werden, notwendige Veränderungen bedürfen des gesellschaftlichen Diskurses und politischen Handelns. Und zwar nicht nur durch die gewählten politischen Repräsentant*innen, sondern durch die gesamte Bevölkerung.

Dieser Ansatz geht aus von der Idee der Demokratie als Lebensform. Sie verlangt, dass sich jede Generation von Neuem Grundlagen demokratischen Denkens und Handelns aneignet, um die Demokratie gemeinsam mit anderen zu entwickeln und zu gestalten – sowohl in formalen politischen Kontexten als auch in erweiterten politischen Handlungszusammenhängen wie Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Mitbestimmungsgremien und/oder Selbstverwaltung in Schulen, Hochschulen, Betrieben, durch zivilgesellschaftliches Engagement, Parteien usw. (Weßels 2021; Alscher, Priller u. Burkhardt 2021; Trumann 2013; Zeuner 2010; Hufer 2005, S. 303).

Politische Bildung selbst macht keine Politik. Aber sie nimmt eine wichtige gesellschaftliche Mittlerposition ein, wenn es darum geht, politisches Bewusstsein zu schaffen und im Rahmen politischer Bildungsveranstaltungen den Beteiligten Diskussions- und Diskursräume für eine zukunftsgerichtete Gesellschaftskritik zu eröffnen. Dies schließt die Entwicklung von politischen Utopien mit ein und ein Nachdenken über Handlungsstrategien und -möglichkeiten, diese im Kleinen wie vielleicht im Großen umzusetzen.

Bedeutung politischer Bildung für die Gewerkschaften

Welche Rolle kann eine solchermaßen verstandene politische Bildung im Rahmen gewerkschaftlicher Bildungsarbeit spielen? Da gewerkschaftliche Bildung häufig als Funktionärs- und damit als Zweckbildung verstanden wird, deren primäre Aufgabe die Sicherung der Interessen der in den Gewerkschaften organisierten Mitglieder ist, stellt sich die Frage, auf welche Weise Aspekte politischer Bildung, wie sie oben skizziert wurden, aufgegriffen werden können. Blickt man in die Geschichte der gewerkschaftlichen Bildung, finden sich Beispiele und Ansätze einer allgemeinen Mitgliederbildung, die politische Bildung integrierten. Wobei in deutschen Gewerkschaften immer wieder kontroverse Diskussionen über den Sinn und Zweck politischer Bildung in Abgrenzung zur Funktionärsbildung geführt wurden.

Ansätze, die heute als kritische politische Bildung bezeichnet würden, wurden bereits in den 1960er Jahren entwickelt und in einigen Gewerkschaften praktisch umgesetzt. Ein Beispiel hierfür ist das Konzept der betriebsnahen Bildungsarbeit, in dem, basierend auf dem von Oskar Negt und anderen entwickelten Prinzip der soziologischen Phantasie und des exemplarischen Lernens, Bildungsobleute in den Betrieben ausgebildet wurden. Diese sollten auf betrieblicher Ebene Bildungsprozesse bei den Kolleginnen und Kollegen anregen und unterstützen. Dabei ging es um die Entwicklung kritischer Urteilskraft, um das Verstehen gesellschaftlicher, lebensweltlicher und arbeitsbezogener Zusammenhänge und ihre Abhängigkeit von politischen und ökonomischen Prozessen. Zugleich ging es um Fragen der Veränderung von Arbeitsbedingungen (Zeuner 2014).

Das Konzept, Bildungsobleute auszubilden, war durchaus erfolgreich. Allerdings kam es nach einigen Jahren innerhalb der Gewerkschaften zu Diskussionen über die Sinnhaftigkeit dieses Ansatzes. Ein Problem war, dass die politisch gebildeten Mitglieder nicht nur die Gesellschaft, sondern auch ihre eigenen Organisationen und deren Ziele kritisch hinterfragten – es kam zu Kontroversen zwischen der Mitglieder- und der Funktionärsebene, mit dem Resultat, dass Ende der 1970er Jahre die kritische politische Bildungsarbeit zugunsten der Funktionärsbildung weitgehend aufgegeben wurde (Brock, Negt & Müller 1978).

Mittlerweile gibt es wieder Ansätze und Konzepte, die versuchen, eine arbeitsorientierte emanzipative Bildung (Faulstich 1981), kritische, subjektorientierte politische Bildung (Allespach, Meyer & Wentzel 2009) oder eine auf Zwischenmenschlichkeit und politische Handlungsfähigkeit ausgerichtete Bildungsarbeit (Kehrbaum 2021) in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit zu integrieren.

Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, die eingangs skizziert wurden, sind solche Bemühungen dringend notwendig, da die Arbeits- und Berufswelt nach wie vor für die meisten Menschen zentral ist für die Begegnung mit anderen. Ein Ort, an dem Solidarität geübt, aber auch Konflikte und Kontroversen entstehen und ausgetragen werden. Die politischen, ökonomischen und sozialen Transformationsprozesse spiegeln sich in der Arbeitswelt, die geprägt ist von Konkurrenz, Ökonomisierungstendenzen, Regimen des Shareholder Values und vielem mehr.

Die krisenhaft empfundenen und erfahrenen Entwicklungen, die zu Unsicherheit und Orientierungslosigkeit führen, zeigen sich auch in Belegschaften, denen durch kollektive Bildungsprozesse begegnet werden kann. Belegschaften stellen teilweise Querschnitte der Gesellschaft dar und es ist anzunehmen, dass sich die gesamtgesellschaftlich konstatierten Verschiebungen von politischen Einstellungen hin zu populistischen und rechtsextremen, zu rassistischen und homophoben Haltungen dort ebenfalls finden.

Damit ist politische Bildung mehr als die Vermittlung von Wissen über politische Strukturen und formale Beteiligungsmöglichkeiten. Sie zielt auf aktives politisches Handeln in allen Lebensbereichen, ausgehend vom persönlichen über das berufliche Umfeld und die Arbeitswelt bis hin zu formalisiertem politischem Handeln.

„Das setzt ein neues Öffentlichkeitsbewusstsein voraus, die Schaffung öffentlicher Räume, die nicht zu klein und nicht zu groß sind, wo die Menschen die Wirkungen ihrer Beteiligung erfahren können. Es ist bedrohlich, in welcher Weise diese zwischen ‚Nähe und Distanz‘ ausbalancierten ‚lebbaren Einheiten‘ der betriebswirtschaftlichen Rationalisierung zum Opfer fallen. Viele Institutionen sind zu weit entfernt und andere zu sehr auf die individualisierten Perspektiven reduziert. Diese gesellschaftlichen Zwischenwelten wieder zu fördern, ist ein wesentliches Element des notwendigen Umdenkens.“ (Negt 2010, 506f; Hervorhebungen im Original)

Gewerkschaften stellen eine Form dieser gesellschaftlichen Zwischenwelten dar. In ihrer Bildungsarbeit können sie Räume eröffnen und Zeit geben für politische Diskurse, für Beteiligung, für Begegnung. Ein typisches Problem der organisierten und formalisierten politischen Bildung, politisch Desinteressierte, politisch Desillusionierte zu erreichen, Personen aus Milieus, die ökonomisch und sozial benachteiligt sind oder gering Qualifizierte, stellt sich für die Gewerkschaften vielleicht weniger. Dennoch müssten Strategien entwickelt werden, solche Personengruppen für die politische Bildung anzusprechen und für die Teilnahme zu interessieren.

In einer politischen Bildung, die integriert wird in weitergehende Themen und Anliegen von Belegschaften ginge es darum zu zeigen, dass betriebliche Entwicklungen zumeist auf übergeordneten politischen und ökonomischen Zielsetzungen und Entscheidungen beruhen, die sowohl auf privater als auch auf betrieblicher Ebene Konsequenzen für die Menschen haben. Ziel einer arbeitsorientierten, emanzipativen politischen Bildung sollte es daher sein, Bezüge herzustellen und Zusammenhänge zu erklären, um Entwicklungen und Zustände zu begründen, was zu Verstehen und aufgeklärten Haltungen führen kann.

„Ausgangspunkt von Bildung sind demnach Interessenstrukturen im Rahmen gesellschaftlicher Verhältnisse. ... die berufliche Arbeit [ist] für die meisten Erwachsenen weiter Kern der Lebensbedingungen und Orientierungen. Es geht um die Klärung von Interessenpositionen und die Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten zur Gestaltung betrieblicher und gesellschaftlicher Verhältnisse.“ (Faulstich 1999, S. 241).

Mittels Kritik können gemeinsam Wege zur Veränderung und Verbesserung betrieblicher und gesellschaftlicher Zustände gesucht werden. Das heißt, das Verstehen von Zusammenhängen, die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten, mit ihren Ursachen und mit Überlegungen zu ihrer Veränderung gehen alle Menschen etwas an. Fragen der politischen Wirksamkeit können diskutiert und Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Insbesondere das Gefühl fehlender politischer Einflussmöglichkeiten oder der Sinnlosigkeit politischen Engagements führen nach der Leipziger Autoritarismus-Studie auch in der Mitte der Bevölkerung dazu, sich autoritären Denkmustern anzunähern und die Errungenschaften einer pluralistischen Demokratie abzulehnen (Pickel u.a. 2022, S. 203).

Die Rolle der politischen Bildung ist es, Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit zu leisten, um zu verhindern, dass die Bevölkerung von Expert*innen- und Spezialist*innenwissen abgekoppelt wird. Werden entsprechende Lernprozesse verhindert, erhalten die Menschen keine Chance, Urteils- und Kritikfähigkeit im Sinne Kants zu entwickeln. Politische Bildung ist ein Ansatz, Aufklärung und Mündigkeit zu fördern. Geschieht dies nicht, dann wird, wie Oskar Negt warnt, „am Ende der Entmündigung der Wissensfähigen eine politische Analphabetisierung der Bürger gefördert“ (Negt 2016a, S. 16; Hervorhebung im Original).

Politische Bildung im Rahmen des Bildungsurlaubs: Erfahrungen von Mehrfachteilnehmenden

Der Zustand der politischen Bildung erscheint ambivalent: Einerseits wird ihre gesellschaftliche Relevanz allenthalben betont, andererseits wird sie staatlicherseits nicht in einer Art und Weise gefördert und unterstützt, dass sie einen großen Teil der Bevölkerung auch tatsächlich erreicht. Darüber hinaus werden in Bezug auf die politische Bildung weitere Probleme diskutiert, die hier nur angedeutet werden können.

Erstens war und ist schwierig, überhaupt Menschen zur Teilnahme zu bewegen, bzw. für politische Bildung zu interessieren. Und dabei geht es nicht nur um die Erreichung sog. bildungsferner Bevölkerungsgruppen.

Zweitens, und das ist ein Argument, das in Bezug auf die Frage ihrer langfristigen und verlässlichen öffentlichen Förderung kontrovers diskutiert wird, wird ihre Wirksamkeit hinterfragt - ohne ihre grundsätzliche gesellschaftliche Relevanz zu bestreiten.

Dabei spielen Aspekte wie geringe Teilnahmequoten und die Lernprozesse an sich eine Rolle. In diesem Zusammenhang wird gefragt, ob Menschen, die an politischer Bildung teilnehmen, tatsächlich etwas lernen und welche Wirkungen diese Lernprozesse haben. Dies lässt sich nur sehr schwer zu beantworten. Wirkungsforschung ist in der Erziehungswissenschaft insgesamt, aber insbesondere in Bezug auf die politische Bildung eher unterbelichtet und es gibt nur wenige empirische Erkenntnisse dazu.

Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse einer qualitativen, subjektorientierten Studie vorgestellt, in deren Rahmen von 2017 bis 2019 Mehrfachteilnehmende an Bildungsurlaubs- bzw. Bildungsfreistellungsveranstaltungen in den Bundesländern Hamburg und Rheinland-Pfalz befragt wurden (Zeuner & Pabst 2022). Ausgangspunkt waren Überlegungen, die in Bezug auf die Bildungsfreistellung ähnlich diskutiert werden wie in Bezug auf die politische Bildung: Geringe Teilnahme und kaum Kenntnis über die Wirksamkeit dieses bildungspolitischen Instruments. Hinzu kommen seit der Etablierung der ersten Bildungsurlaubsgesetze in den 1970er Jahren skeptische bis widerständige Einstellungen der Arbeitgeberverbände gegen diese Gesetze. Einige klagten vor dem Bundesverfassungsgericht, welches dann im Sinne des Gesetzgebers entschied und die Relevanz des Bildungsurlaubs sowohl für die Einzelnen als auch für das Gemeinwohl und damit für die Gesellschaft bestätigte.

Trotz immer wieder aufflammender Kontroversen ist mit der Bildungsfreistellung eine gewisse Erfolgsgeschichte verbunden. Verschiedene Studien haben auf vielfältige positive Wirkungen hingewiesen. Seit Beginn der Diskussion wurde angenommen, dass mittels der Bildungsfreistellung auch bildungsungewohnte und bildungsferne Personen erreicht werden könnten, dass von der Teilnahme eine Impulswirkung für weitergehende, lebensentfaltende Bildungsprozesse ausgehen könnte.

Die Studie knüpfte an viele dieser Überlegungen an. Es wurden 27 Personen zu ihren Erfahrungen im Rahmen der mehrfachen Teilnahme an Bildungsfreistellung mittels explorativer, leitfadengestützter Interviews befragt. 25 von ihnen haben zwischen 3- und 40-Mal teilgenommen, zwei Personen waren Erstteilnehmer. Die Personen besuchten Veranstaltungen zur beruflichen und zur politischen Weiterbildung, einige jeweils ausschließlich, einige beide Formen. Eine weitere Gruppe nahm ausschließlich an politischen Studienreisen im Rahmen des Bildungsurlaubs teil.

Im Folgenden werden einige ausgewählte Ergebnisse der Studie vorgestellt, die die Teilnahme an politischer Bildung in den Mittelpunkt stellen und dabei den Focus auf Wirkungen legen. Es handelt sich um die Analyse und Interpretation von subjektiven Aussagen der Befragten.

Im Mittelpunkt der Aussagen von Personen, die vor allem oder ausschließlich an politischer Bildung im Rahmen der Bildungsfreistellung teilnahmen, steht die Erwartung, den eigenen Horizont zu erweitern, über den Tellerrand zu schauen oder hinter die Fassade zu sehen. D.h., Horizonterweiterung wurde zu einer Schlüsselkategorie, die sowohl als eine subjektive Begründung für die Teilnahme an Bildungsfreistellung gilt, als auch als ein erwartetes oder erhofftes Ergebnis. Die Schlüsselkategorie Horizonterweiterung ist ein Oberbegriff für verschiedene Veränderungs- und Entwicklungsszenarien, die sich auf Bildungsprozesse, die Entwicklung von Kritik- und Urteilsfähigkeit und Kompetenzerweiterung der Mehrfachteilnehmenden beziehen.

Als einen wesentlichen Aspekt der erwarteten Bildungsprozesse nannten viele Befragte die Möglichkeit, durch Lernprozesse Perspektivwechsel vorzunehmen und sich in Bezug auf ihre persönliche und berufliche Zukunft neu zu orientieren. In Bezug auf die Teilnahme an politischer Bildung wurde ein solcher Perspektivwechsel mit der Erwartung verbunden, dass Interaktion und Begegnung – mit anderen Seminarteilnehmenden, Dozent*innen, Expert*innen, der Bevölkerung eines anderen Landes – möglich werden und so bisherige Ansichten hinterfragt und Vorurteile bewusst gemacht werden können.

Diese Perspektivveränderungen führten nach Aussage der Befragten zu unterschiedlichen Wirkungen, die in die folgenden Aspekte differenziert werden können.

  • Verstehen
  • Hinterfragen bisheriger politischer Einstellungen und Urteile
  • Relativierung/Veränderung von Weltbildern/Weltanschauungen
  • Zuwachs an Urteils- und Kritikfähigkeit
  • Relationierung von Erfahrungen

Verstehen thematisiert einen Lernprozess, der den anderen im Grunde vorausgeht. Ohne Entwicklungen und Zusammenhänge in Bezug auf ein konkretes Thema verstanden zu haben, ist es mehr oder weniger unmöglich, eigene Standpunkte zu hinterfragen, Unterschiede zu erkennen und Perspektiven zu relativieren oder zu verändern. Eine Gesprächspartnerin resümierte in Bezug auf die Erfahrungen, die sie bei einer Studienreise nach Marokko im Rahmen der Bildungsfreistellung gemacht hatte:

„… Dinge, die man durch diese Art von Reisen oder eben durch diesen Bildungsurlaub halt erfahren kann, lernen kann. Und, wie gesagt, ich finde das unglaublich bereichernd. Einfach, wenn ich wirklich das Gefühl habe, jetzt habe ich wirklich ein Stück mehr von der Realität verstanden.“ [Mikro 19_317-321]

Die Interviews zeigen, dass Bildungsfreistellung zuweilen mit dem dezidierten Ziel in Anspruch genommen wurde, bisherige Einstellungen und Urteile zu überprüfen. Durch die vertiefte Auseinandersetzung mit Themen sollten Weltbilder bewusst und aktiv mit anderen Perspektiven, Sichtweisen und Meinungen kontrastiert werden. Andere Auffassungen zuzulassen und zu tolerieren, führte umgekehrt zu einer höheren Bereitschaft, die eigenen zu hinterfragen:

„Das war so persönlich schon, ja, schon, dass ich der Meinung bin, dass ich durch die ganzen Seminare einfach, ja, toleranter und auch also offener geworden bin für andere Meinungen. Und, ja, auch einfach zu sehen, dass es zwar so sein kann, aber es kann halt auch anders sein.“ [Mikro 26_386-388]

Eine Teilnehmerin, die ausschließlich an politischen Bildungsreisen teilnahm, begründet dies mit Neugierde und dem Interesse an Politik, an anderen Kulturen und Traditionen. Die Reisen vermitteln ihr Einsichten in Entwicklungen und Problemlagen anderer Länder, die sie im Nachhinein durch Lektüre und Medienrecherchen vertieft. Ausgangspunkt sind die Informationen, die sie im Land erhält. Die ergänzenden Recherchen erweitern ihre Perspektiven und sensibilisieren sie für Widersprüche.

„Also ich bin sehr bereichert, habe mich eben sehr intensiv mit einem Thema und mit einer Gesellschaft auseinandergesetzt, kann eben hier im Nachhinein viele gesellschaftliche Dinge wieder neu und anders sehen und beurteilen. Kann die Nachrichten, oder was man in den Medien mitbekommt, auch einfach besser verorten. […] Also ich habe einfach ein Stück tiefere Erkenntnis über die Welt, wenn ich es jetzt mal so ganz groß sagen möchte.“ [Mikro 19_234-244]

Im Sinne erweiterter Kritikfähigkeit lernte sie, scheinbar Gegebenes zu hinterfragen, zwischen verschiedenen Informationen und Informationskanälen zu differenzieren und ihre Quellen kritisch einzuordnen.
Viele Befragte schätzen die Teilnahme an politischen Bildungsveranstaltungen, weil in ihnen gezielt auf die Kontroversität politischer und gesellschaftlicher Themen eingegangen wird. Sie wünschten und suchten nach eigenem Bekunden genau diese Formen der Konfrontation zwischen eigenen Meinungen/Überzeugungen und einer ihnen unbekannten Realität, entsprechend ihrem Bedürfnis nach (Selbst-)Aufklärung, verbunden mit dem Wunsch, die selbstbestätigende selektive Wahrnehmung der eigenen „Blase“ zu verlassen, subjektive Standpunkte zu überdenken und der Kritik zu unterziehen:

„Das war ja die Idee, die ich hatte, als ich gesagt habe, man sieht so ein bisschen die Widersprüchlichkeit oder die Unterschiedlichkeit der Aspekte oder der Leute. Also die hat man natürlich selber, wenn man selber Wissen regeneriert zu Hause und sich dann das sucht, was ich meinte so als Blase, was man selbst bestätigt, nimmt man ja selber, ist ja was ganz Automatisches, eigentlich das Fremde spart man aus. Man selektiert das ja eigentlich eher und man ist ja sozusagen in gewisser Weise in so einer Gruppe mit ganz unterschiedlichen Leuten eigentlich gezwungen, diese Unterschiedlichkeit entweder auszuhalten oder zu integrieren oder eine Position dazu zu entwerfen und damit kriegt man ja auch wieder und die anderen auch, also es spiegelt sich ja was wider. Das kann ganz harmonisch sein oder kann ganz disharmonisch sein, aber es spiegelt sich ja was wider automatisch dann und das finde ich auch das Spannende. Also eine Lernerfahrung gibt es nach meiner Meinung auf alle Fälle. Wenn es nicht… das muss ja nicht heißen, dass es ein gemeinsames Wissenslernen gibt, sondern eigentlich auch… es eröffnet sich ein anderer Horizont. Ich finde, das ist das Spannende. Ob alle gemeinsam jetzt ein Wissen transferieren, da wäre ich auch… das kann ja auch manchmal schwierig sein, dass man sagt, okay, das ist eine schwierige Erfahrung oder in der Situation das würde ich ganz anders betrachten. Aber man kommt natürlich mit einer anderen Haltung wieder raus.“ [Gr 02_504-520]

Als weitere, zeitlich verzögerte bzw. langfristige Wirkungen berichten die Mehrfachteilnehmenden über erweiterte soziale und politische Handlungsmöglichkeiten. So hat ein Ehepaar für die Nachbarschaft Informationsabende über ihre Reisen veranstaltet; eine andere Person hat später eine Vortragsreihe organisiert. Viele Mehrfachteilnehmende berichten über ihre Lern- und Bildungserfahrungen im persönlichen und beruflichen Umfeld. Einige Personen machten transformative Lernprozesse, indem sie Bildung und Weiterbildung für sich entdeckten und sich sowohl beruflich als auch persönlich weiterentwickelten, teilweise Berufswechsel vorbereiteten, über den Zweiten Bildungsweg ein Studium einschlugen, neue berufliche Perspektiven ausloteten.

In ihren subjektiven Reflexionen bezeichneten einige Mehrfachteilnehmende ihre Erlebnisse und Erfahrungen als eine Überschreitung bzw. Erweiterung ihrer bisherigen Erkenntnisse und identifizierten diesen Prozess als eine Zunahme an Kritik- und Urteilsfähigkeit. Es ereignete sich also eine „Erschließung von Welt“ im Sinne Armin Bernhards (2018, S. 138), die es ihnen erlaubte, bisherige Auffassungen und Weltsichten zu überprüfen und Relationierungen bzw. Relativierungen vorzunehmen. Als subjektiv bedeutsamen Ertrag dieser Prozesse werteten sie erweiterte Handlungsoptionen in Bezug auf die Kommunikation und Interaktion mit anderen, in Bezug auf begründete Entscheidungsfindungen vor dem Hintergrund veränderter Sichtweisen oder Einstellungen und in Bezug auf die Bewältigung von herausfordernden Lebenssituationen. Sie bestätigen indirekt, dass politische Bildung über die in ihr inhärente Kontroversität zum dialektischen Denken anregt und zur (Selbst-)Aufklärung beiträgt. Dadurch lernen sie, wie Oskar Negt betont, „… die lebendige Bewegung in Widersprüchen, die sich weder aufheben noch umgehen lassen“ (Negt 1993, S. 661).

Im Zusammenhang mit Seminaren und Bildungsreisen zur politischen Bildung berichteten die Befragten von vertieften politischen Einsichten, von Erweiterungen der eigenen Urteilskraft im Kontext sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Prozesse oder von Erkenntnissen über ihre eigene kulturelle Identität. Die Bildungsprozesse entfalteten also Wirkungen, für die Oskar Negt die Entwicklung verschiedener Fähigkeiten als relevant beschreibt: Zum einen das Aufdecken gesellschaftlicher Widersprüche in Diskurs- und Denkprozessen, zum anderen die Fähigkeit, die Bedingungen und Entwicklungen gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen und dadurch neue Orientierungen zu gewinnen und ein individuelles Selbstverständnis zu entwickeln.


Politische Bildung: Gesellschaftliche Aufgabe oder Privatsache?

Dieser kurze Einblick in einige Ergebnisse der Studie zu subjektiven Wirkungen der Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung sollte deutlich machen, dass die Teilnahme an politischer Bildung sehr wohl Wirkungen zeitigen kann. Davon können Impulswirkungen ausgehen, so dass Menschen sich auf langfristige Bildungsprozesse einlassen, transformative biographische Lernprozesse eingehen oder auch politisch handlungsfähig und aktiv werden.

Dies führt zurück zum Ausgangspunkt der Argumentation: Auf die mögliche Rolle politischer Bildung angesichts politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Transformationsprozesse, auf die Teile der Bevölkerung mit Politikabstinenz und Demokratiedistanz bis hin zu Demokratiefeindlichkeit und Extremismus reagieren, was unter anderem mit fehlenden politischen Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten begründet wird. Politische Bildung ist nicht allein in der Lage, drängende politische Probleme zu lösen. Aber die politische Erwachsenenbildung sollte auch in Zukunft im Sinne eines Forums verstanden werden, in dem politische Utopien und politische Handlungsstrategien entwickelt werden. Die Vermittlung von Wissen, das zu Kritikfähigkeit und politischen Urteils- und Handlungsfähigkeit führt, bleibt genuine Aufgabe der politischen Bildung.

Daraus ergeben sich nicht nur Gründe, warum politische politischen Erwachsenenbildung in Zukunft stärker gefördert werden müsste. Vielmehr können sich aus den Entwicklungen auch Argumente ableiten lassen, warum sich Gewerkschaften intensiver um die politische Bildung ihrer Mitglieder kümmern sollten. Betrachtet man die Zahlen des aktuellen Datenreports der Bundeszentrale für politische Bildung (Weßels 2021), zeigt sich, dass die Politikabstinenz sozial schwächerer und bildungsferner Personen eher zu- als abnimmt. Diese große Gruppe der Bevölkerung zu erreichen und mit ihr im Sinn einer emanzipativen politischen Bildung im eigenen Interesse das politische Geschehen zu gestalten ist für die Zukunft eine der großen Herausforderungen für die politische Bildung.

Wer, wenn nicht die Gewerkschaften kann diese Gruppen vielleicht erreichen? Sie fühlen sich noch stärker ausgeschlossen und abgehängt als andere Bevölkerungsgruppen, was bei Einzelnen langfristig vermutlich zu noch mehr Frustration führt, weil ihre Stimmen (die es nicht gibt) nicht gehört werden, was das Gefühl politischer Ohnmacht erhöhen wird. Bremer und Trumann sprechen, bezogen auf bestimmte Milieus, in diesem Zusammenhang von Selbstausschluss bzw. Selbstexklusion (2017, S. 88).

Um nicht nur die Personengruppen zu erreichen, die sich ohnehin für Politik und politische Bildung interessieren, müsste sich nicht nur die politische Erwachsenenbildung, sondern auch die Gewerkschaften, die politische Bildung in ihre Bildungsarbeit integrieren wollen, mit unterschiedlichen Entwicklungen und Aspekten auseinandersetzen, von denen abschließend einige skizziert werden:

  • Organisatorisch und strukturell müsste sich die politische Erwachsenenbildung auf eine Diversifizierung ihres Angebots einstellen und neue Formate, unter Einbezug neuer Medien weiterentwickeln. Notwendig wäre die Ansprache von Zielgruppen, die als politikfern oder politikdistanziert bezeichnet werden: bildungsferne Personen, Menschen mit Migrationsgeschichte, soziale Milieus am Rande der Gesellschaft.
  • Neben einer institutionalisierten Bildungsarbeit wäre die Entwicklung aufsuchender Formen der Bildungsarbeit im Sinne angelsächsischer kritischer Ansätze von Community Development-Strategien hilfreich, die an den alltäglichen Lebenserfahrungen der Menschen anknüpfen und gemeinsam mit ihnen Perspektiven zur Veränderung ihrer Lebenswelt entwickeln und entsprechende Aktivitäten unterstützen. Dies geht über Konzepte einer quartierbezogenen Sozialarbeit durch einen dezidiert politischen Bildungsanspruch weit hinaus.
  • Die immer wieder diskutierte Verzahnung zwischen beruflicher und politischer Bildung müsste angesichts der Weiterentwicklung von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz wieder aufgegriffen werden. Die anstehenden Transformationsprozesse sollten kritisch begleitet und im Rahmen von Mitbestimmungsmöglichkeiten aktiv mitgestaltet werden.


Verschiedene inhaltliche Themenbereiche müssten intensiver berücksichtigt werden:

  • Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Antifeminismus, Homophobie, Rechtsextremismus müssen von der politischen Erwachsenenbildung inhaltlich weiterhin bearbeitet werden, wobei aus einer historisch-kritischen Perspektive heutige Entwicklungen reflektiert und in einen politischen Handlungskontext gestellt werden sollten. Inhaltliche Bezugspunkte könnten v.a. die Themen Migration und Diversität darstellen.
  • Fragestellungen zur ökologischen Entwicklung, v.a. im Zusammenhang mit dem Klimawandel müssten vor dem Hintergrund von internationaler Politik, Ökonomie und Technologie und deren globalen Folgen im Sinne des globalen Lernens in gemeinsamer Verantwortung stärkeres Gewicht bekommen.
  • Politische Bildung als kritische Medienbildung müsste einen größeren Stellenwert bekommen. Die aktuelle Tendenz, sich zur politischen Meinungsbildung in geschlossenen Foren, Filterblasen, Chatgruppen usw. zu bewegen, in denen die eigene politische Meinung in einer Art selbstreferentiellen Kreislauf perpetuiert wird, verschließt sich den in einer Demokratie notwendigen Auseinandersetzungen und birgt eine sehr große Gefahr für die demokratische Bewusstseinsbildung der Einzelnen. Das Internet als Informationsquelle sollte kritisch genutzt werden: Mit der Verlagerung politischer Meinungsbildung in private Foren geht eine Abschottung einher, die das Wesen der politischen Bildung, nämlich Öffentlichkeit herzustellen, konterkariert. Das Politische wird auf diese Weise privat, und entzieht sich öffentlicher Kontrolle und damit dem Prozess von Checks and Balances.
  • Die politische Erwachsenenbildung müsste neue Bündnisse zwischen kritischer Wissenschaft und Praxis, also auch den Gewerkschaften schaffen. Zudem wäre ein Austausch und eine Zusammenarbeit mit Vertreter*innen naturwissenschaftlicher und technischer Disziplinen wichtig, um eine kritische Öffentlichkeit herzustellen.
  • Im Rahmen der wissenschaftlichen Ausbildung künftiger Erwachsenenbildner*innen müsste die politische Bildung einen höheren Stellenwert bekommen, um langfristig eine bessere Verzahnung zwischen Theorie und Praxis zu bewerkstelligen.
  • Neben nationalen Perspektiven der politischen Erwachsenenbildung müssten in Theorie und Praxis internationale Fragestellungen eine wesentlich größere Rolle spielen, da die Einflüsse der Globalisierung auf die Alltags- und Berufswelt erheblich sind, aber auch gestaltbar.


Politische Bildung in diesem Sinn leistet einen Beitrag zur Identitätsbildung und damit zur individuellen wie gesellschaftlichen Existenz und zur Festigung der Demokratie. Über Reflexion kommt der Mensch zur Urteilsfähigkeit und damit gemeinsam mit anderen zur Gestaltung der Gesellschaft:

„Ihrem ganzen, geschichtlich geprägten Wesensgehalt nach ist politische Bildung unabtrennbar mit der Deutung gesellschaftlicher Strukturen und dem Ziel, die ideologischen Ablagerungen, die Wirklichkeit verdecken, abzutragen und die Veränderungspotentiale im Bestehenden sichtbar zu machen. Denn Utopie ist die konkrete Verneinung der als unerträglich empfundenen gegenwärtigen Verhältnisse, mit der klaren Perspektive und der mutigen Entschlossenheit, das Gegebene zum Besseren zu wenden“ (Negt 2010, S. 36; Hevorhebungen im Original).

Zugleich sollte eine zukunftsgerichtete politische Bildung mehr Mut zur Kontroversität entwickeln, indem gesellschaftliche Kontroversen, Widersprüche, aber auch Machtansprüche und Interessen wieder stärker thematisiert und hinterfragt werden (Zeuner 2023). Kritische Diskurse über den Zustand der Gesellschaft sollten nicht unterdrückt oder privatisiert werden, sondern der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Auch, um die Tendenz, das Politische als Privatsache zu verstehen, welche nur im Rahmen des subjektiven Erfahrungs- und Erwartungshorizonts diskutiert wird, zu durchbrechen. Denn es ist zu befürchten, dass eine weitere Fragmentierung und Selbstreferentialität von politischen Diskursen, insbesondere in geschlossenen Foren im Internet, auf Dauer antidemokratische Wirkungen erzeugen.


Literatur:

 

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  • Zeuner, Christine & Schudoma, Laura (2023). Politische Erwachsenenbildung: Entwicklungen, kritische Positionierungen und Bildungsformate. In Chehata, Yasmine, Eis, Andreas, Lösch, Bettina, Schäfer, Stefan, Schmitt, Sophie, Thimmel, Andreas, Trumann, Jana & Wohnig, Alexander (Hrsg.), Handbuch kritische politische Bildung. Politik und Bildung Band 95 (S. 340-349). Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag.
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