7.1. PRIVATWIRTSCHAFT UND ÖFFENTL. DIENST

Vertrauenspersonen der Schwerbehinderten benötigen einerseits rechtliches, andererseits aber auch praktisches Wissen im Bezug auf die von ihnen vertretenen Menschen. Um beides zu erwerben, gibt ihnen das Sozialgesetzbuch Nr. 9 (SGB IX) ein Recht auf Freistellung für die Teilnahme an Schulungsveranstaltungen.

Der Anspruch von Vertrauenspersonen der Schwerbehinderten auf Freistellung für Schulungsveranstaltungen ergibt sich aus § 96 Abs. 4 SGB IX. Danach hat die Vertrauensperson in der Privatwirtschaft und dem öffentlichen Dienst einen Anspruch auf bezahlte Freistellung von der Arbeit für die Teilnahme an Schulungsveranstaltungen, wenn sie Kenntnisse vermitteln, die für die Arbeit als Vertrauensperson erforderlich sind.

Die Entscheidung, ob diese Voraussetzung vorliegt, trifft die Vertrauensperson selber. Sie wählt sich selber die Veranstaltung und damit den Veranstalter aus. Dabei hat sie einen Beurteilungsspielraum, muss also nicht immer die billigsten Angebote auswählen. (So das BAG am 16.10.1996 - 6 ABR 14/84 für die vergleichbare Rechtsstellung des Betriebsrates) Maßstab ist vor allem die inhaltliche Qualität, wobei etwa das Bundesverwaltungsgericht gewerkschaftlichen Anbietern grundsätzlich ungeprüft zugesteht, dass sie die Gewähr für in jeder Hinsicht ordnungsgemäße Durchführung der jeweiligen Veranstaltungen bieten. (BVerwG am 27.04.1979 - 6 P 45.78)

Aus dem SGB IX ergibt sich keine zeitliche Begrenzung des Schulungsanspruchs. Wie lange die einzelne Veranstaltung dauert und wie häufig die Vertrauensperson zu Schulungen fährt, beurteilt sich damit ausschließlich nach der Erforderlichkeit. Allerdings muss dabei eine gewisse Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. (BAG vom 31.10.1972 - 1 ABR 7/72) Das ist keine objektiv bestimmbare Größe, sondern ein argumentativer Ansatz der Arbeitsgerichte, um eine allzu großzügige Inanspruchnahme des Rechts auf Freistellung einzudämmen. Unverhältnismäßig wäre es etwa, in einem Kleinbetrieb einen großen Teil des Gewinns für solche Veranstaltungen – die ja der Arbeitgeber bezahlen muss – zu verbrauchen oder die Schulungen gezielt in Zeiten mit hoher Belastung im Betrieb zu legen.

Wenn die Veranstaltung die Dauer der individuellen Arbeitszeit überschreitet, entsteht in der Privatwirtschaft hieraus ein Anspruch auf Freizeitausgleich. Das folgt aus § 96 Abs. 3 SGB IX, der der Vertrauensperson die selbe Rechtsstellung gegenüber dem Arbeitgeber zubilligt, wie sie ein Mitglied des Betriebsrats hat. Für den ergibt sich dieses Recht aus der ausdrücklichen Bestimmung in § 37 Abs. 6 BetrVG. Anders sieht dies im öffentlichen Dienst aus: Von einem Mitlied des Personalrats wird hier erwartet, dass es ein Freizeitopfer erbringt. Hier ist die Position der Vertrauensperson dem Personalrat angeglichen.

Die beabsichtigte Teilnahme muss nicht durch den Arbeitgeber oder den Dienststellenleiter bewilligt werden. Die Vertrauensperson stellt sich selber frei. Sie muss dies lediglich rechtzeitig mitteilen, damit die Möglichkeit besteht, den Ausfall auszugleichen. Damit trägt die Vertrauensperson allerdings auch allein das Risiko, dass sie sich über ihr Recht zum Besuch der Veranstaltung im konkreten Fall – weil diese doch nicht erforderlich ist – irrt und deshalb zumindest keine Entgeltfortzahlung erhält. Deshalb ist es wichtig, immer diese Erforderlichkeit genau zu überprüfen.

Dreh- und Angelpunkt ist die Erforderlichkeit des Seminarbesuchs und damit der Freistellung. Ist sie gegeben, besteht das Recht auf Arbeitsbefreiung. Diese Erforderlichkeit hat drei Elemente: Das erste ist der Inhalt der Veranstaltung, das zweite der Anlass der Schulungsteilnahme und das letzte eine persönliche Komponente.

Ob alle Elemente bei einer Veranstaltung gegeben sind, entscheidet zunächst die Vertrauensperson selber. Sie hat auch hier einen gewissen Beurteilungsspielraum. Bei dessen Ausfüllung muss sie sich – so die Rechtsprechung des BAG zum Betriebsverfassungsrecht – auf den Standpunkt eines mit den Verhältnissen vertrauten vernünftigen Dritten stellen und nicht nur nach subjektiven Wünschen über die Schulungsteilnahme entscheiden. (BAG vom 16.10.1986 - 6 ABR 14/84)

Wer ein vernünftiger Dritter ist? Im Zweifel die Richterinnen und Richter, die bei einem Streit mit der Sache befasst sind. Deren Anforderungen wird die Vertrauensperson am Ehesten gerecht, wenn sie zu allen drei Aspekten der Erforderlichkeit plausibel darstellen kann, warum sie im konkreten Fall deren Vorliegen bejaht hat.

Auf keinen Fall allerdings ist der Arbeitgeber, Vorgesetzte oder Dienststellenleiter die "vernünftige" Instanz zur Beurteilung der Erforderlichkeit. Auch er ist interessengebunden. Seine Ablehnung der Schulungsteilnahme ist daher allenfalls Ausgangspunkt für Diskussionen oder das Gerichtsverfahren, hat aber nicht "kraft Amtes" das letzte Wort.

Quintessenz: Es gibt keine objektiv feststehenden Kriterien für die Erforderlichkeit, wichtig ist die an den folgenden Elementen orientierte Argumentation der Vertrauensperson.

Der Inhalt der Schulungsmaßnahme muss in erkennbarer Weise mit der Tätigkeit der Vertrauensperson nach dem SGB IX, das die materielle Grundlage ihrer Tätigkeit bildet, in Verbindung stehen und hierfür mehr als nur irgendwie nützlich oder hilfreich sein. Eine solche Erforderlichkeit kann grundsätzlich immer angenommen werden, wenn Inhalte des SGB IX oder die Grundlagen der Zusammenarbeit zwischen Vertrauensperson, Betriebsrat oder Personalrat und Arbeitgeber oder Dienststelle vermittelt werden. Das kann etwa die besondere Rechtsstellung von Schwerbehinderten betreffen, Verfahrensfragen des Schwerbehindertenrechts, weil häufig eine Beratung in diesen Angelegenheiten erforderlich ist oder auch Themen des Arbeitsschutzes, wenn die mit der Tätigkeit von Schwerbehinderten in Zusammenhang stehen.

Hierbei handelt es sich um sogenanntes Grundlagenwissen, dessen Kenntnis für die Vertrauensperson unbedingt erforderlich ist. Daneben gibt es Schulungen zu spezielleren Themen wie etwa spezielle juristische Fragestellungen, bei denen die Erforderlichkeit nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann.

Einer Veranstaltung selber ist nicht anzusehen, ob sie in die Kategorie "erforderlich" fällt oder nicht. Die Teilnahme an einem Kurs "Gebärdensprache" ist erforderlich, wenn auf andere Weise die Kommunikation mit einem Teil der Schwerbehinderten nicht sicher zu stellen ist. Sind dagegen überhaupt keine Gehörlosen in der Dienststelle vorhanden, ist die Schulung auch nicht erforderlich. Die Situation im Betrieb bzw. der Dienststelle gibt also den Ausschlag.

Dies ist der Sinn der Unterscheidung zwischen Grundlagen- und Spezialschulungen: Erstere tragen die Erforderlichkeit sozusagen in sich, die Vertrauensperson muss sie im Streitfall nicht gesondert belegen. Das Teilnahmerecht wird hier allenfalls auf der Ebene der persönlichen Erforderlichkeit eingeschränkt. Bei Spezialschulungen dagegen muss sich die Vertrauensperson hinsichtlich des Anlasses weiter gehende Gedanken machen.

Zumindest bei den Spezialschulungen verlangt die Rechtsprechung zum Betriebsverfassungsrecht eine Veranlassung durch die aktuelle Situation in der Dienststelle. (BAG vom 09.10.1973 - 1 ABR 6/73) Die Verwertung der gewonnenen Kenntnisse muss also zeitnah möglich sein. Eine Schulung "auf Vorrat" ist nicht vorgesehen. Wer sich über die technischen Unterstützungsmöglichkeiten bei Rückenleiden informieren will, muss also eine aktuelle Problemstellung in der Dienststelle haben, die dies erforderlich macht.

Der aktuelle Anlass für die Schulungsteilnahme kann auch von der Vertrauensperson selber ausgehen. Sie hat gem. § 95 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX die Aufgabe, Maßnahmen bei der Dienststellenleitung zu beantragen, die schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dienen. Auch wenn seitens der Dienststelle keine entsprechenden Initiativen geplant sind, kann die Vertrauensperson auf diesem Feld initiativ werden – und damit den Anlass für eine Schulungsmaßnahme geben.

Keine Hürde ist der konkrete Anlass in der Regel für die oben beschriebenen Grundlagenschulungen. Schulungen über die wesentlichen rechtlichen und praktischen Bedingungen der eigenen Tätigkeit braucht die Vertrauensperson schon allein deshalb, weil sie dieses Amt übernommen hat und nicht erst dann, wenn konkret Probleme auftreten.

Der konkrete betriebliche Anlass kann allerdings auch bei den Grundlagenschulungen eine Bedeutung erlangen, wenn die Maßnahme so kurz vor dem Ende der Amtsperiode statt findet, dass eine Verwertung der erworbenen Kenntnisse zumindest fraglich ist. (BAG vom 07.06.1989 - 7 ABR 26/88). Hier gibt es jedoch keine objektive Größenordnung. Auch einen Monat vor den Neuwahlen ist die Teilnahme erforderlich, wenn zu belegen ist, warum das zu erwerbende Wissen noch bis zu Wahl eingesetzt werden kann. Hier muss also der Anlass entgegen den sonstigen Gepflogenheiten bei den Grundlagenschulungen doch noch belegt werden. Kein Anlass ist allerdings die Spekulation auf die Verwertung der Kenntnisse in einer kommenden Amtsperiode: Schließlich stellt sich mit jeder Wahl die Frage neu, ob das Amt denn überhaupt wieder eingenommen wird. (BAG vom 7.6.1989 – 7 ABR 26/88)

Nur wenn die Vertrauensperson das auf der Maßnahme zu vermittelnde Wissen noch nicht auf andere Weise erworben hat, ist die Erforderlichkeit gegeben. (BAG vom 09.10.1973 - 1 ABR 6/73) Wer bereits seit langen Jahren dieses Amt inne hat, wird es schwer haben, zu begründen, warum er sich dann noch in die Grundlagen der eigenen Tätigkeit einarbeiten muss. In diesen Fällen müsste die Erforderlichkeit der Teilnahme auch an einer Grundlagenschulung daher besonders begründet werden. (BAG vom 16.10.1986 - 6 ABR 14/84) Etwas anderes allerdings ist die Teilnahme an weiter führenden oder vertiefenden Veranstaltungen – etwa nach einer Änderung des Schwerbehindertenrechts. Dann besteht selbst bei einem vor kurzem absolvierten Besuch einer Grundlagenschulung kein Anlass, die Erforderlichkeit grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Hier richtet sich das Recht auf Freistellung wiederum nach den konkreten Verhältnissen, also der Erforderlichkeit im Einzelfall.

Den selben Freistellungsanspruch haben auch die stellvertretenden Mitglieder, wenn sie ständig zur Mitarbeit in der Vertretungsarbeit heran gezogen werden, häufig und für längere Zeit die Vertrauensperson vertreten müssen oder demnächst in das Amt nachrücken.

Die Vertrauensperson ist für die Freistellung nicht auf die Bewilligung von Vorgesetzten, Dienstherrn oder Arbeitgeber angewiesen. Sie stellt sich selber frei. Daher kann es auch vor dem Besuch der Veranstaltung in der Regel keine gerichtliche Auseinandersetzung geben. Das Gericht kann den Arbeitgeber oder Dienstherrn nicht in die Pflicht nehmen, weil der überhaupt keine Möglichkeit hat, die Teilnahme zu vereiteln. Allenfalls kann er selber versuchen, per einstweiliger Verfügung den Schulungsbesuch untersagen zu lassen. Gestritten wird daher in der Regel nur nachträglich über die Bezahlung der Kosten.

Wer ganz sicher gehen will, meldet vorsorglich für die Zeit der Teilnahme an einer solchen Veranstaltung Urlaub oder Bildungsurlaub an, der dann nach einer gerichtlichen Klärung wieder gutgeschrieben wird. Zwar bedarf auch der Urlaub einer Bewilligung, die der Arbeitgeber verweigern kann. Mit einem solchen Vorgehen signalisiert der Teilnehmer aber, dass er jede Möglichkeit der Legalisierung der Arbeitsbefreiung ausschöpft und verhindert damit arbeitsrechtliche Konsequenzen.

An den/die Dienststellenleiter/in

Betrifft: Teilnahme an einer Schulungsveranstaltung

Ich habe am --Datum der Beschlussfassung-- beschlossen, an der Schulungsveranstaltung --Titel der Veranstaltung-- vom xx.xx.xxxx bis xx.xx.xxxx in meiner Eigenschaft als Vertrauensperson der Schwerbehinderten teilzunehmen. Den Inhalt der Veranstaltung entnehmen Sie bitte der beiliegenden Ausschreibung. Sollten von Ihrer Seite Vorbehalte hiergegen bestehen, bitte ich um unverzügliche Mitteilung, damit ich diese ggf. berücksichtigen kann.

Mit freundlichen Grüßen

Unterschrift

ANSPRECHPARTNERIN

Christine Rosenthal
Juristin (Rechtsassessorin)
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